IMI-Analyse 2025/23 - In AUSDRUCK September 2025
Annexion unter dem Mantel des Wiederaufbaus
"Sicherheitszone" in Syrien
von: Alexander Friedrich | Veröffentlicht am: 8. September 2025
Der Machtwechsel in Damaskus im Dezember 2024 hat die Situation in Syrien fundamental verändert. Nach einer unerwarteten Blitzoffensive von Oppositionskräften unter der Führung der islamistischen Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) floh Diktator Bashar al-Assad nach Moskau und Ahmed al-Sharaa, vormals bekannt unter seinem nom de guerre, Abu Muhammad al-Jolani, wurde Präsident der Übergangsregierung. Seitdem herrscht ein fragiler Frieden in Syrien, während sich die neue Regierung um Konsolidierung bemüht. Teil ihrer Strategie ist ein außenpolitischer Kurswechsel – und eine weitreichende Öffnung gegenüber dem ‚Westen‘ sowohl auf diplomatischer als auch vor allem auf wirtschaftspolitischer Ebene. Europa, die USA und die Golfmonarchien erkannten die Übergangsregierung – trotz ihrer Geschichte als Ableger al-Qaidas und weiter bestehender Einstufung als terroristische Vereinigung – zügig an. Sie begannen, die Beziehungen zu normalisieren und hoben zuletzt auch erst das US-, dann das europäische Sanktionsregime auf. Doch der engste Bündnispartner al-Sharaas ist Syriens nördlicher Nachbar: Türkiye hielt bereits seit 2017 eine schützende Hand über die HTS, und tatsächlich ist die Position Türkiyes in Syrien unter allen internationalen Akteuren diejenige, die durch die Machtübernahme al-Sharaas am wenigsten beeinträchtigt wurde.
Doch der Preis für Ankaras anhaltende Unterstützung ist hoch: Damaskus’ Schweigen zur schleichenden türkischen Annexion der tausende Quadratkilometer umfassenden sogenannten „Sicherheitszone“ in Nord-Syrien. Seit die türkische Militäroperation Euphrates Shield diese 2016 etablierte (und in den darauffolgenden Operationen Olive Branch und Peace Spring von 2018 und 2019 erweiterte), haben sich türkische außen- und sicherheitspolitische Interessen in Syrien tief eingegraben. Das Nachbarland verfolgt mit der Besetzung bis heute mehrere innen- und außenpolitische Ziele, deren Stellenwert im politischen Koordinatensystem Ankaras kaum höher einzuschätzen sein könnte: In erster Linie die Möglichkeit und die Legitimation für ein militärisches Vorgehen gegen die syrischen Kurd:innen. Analyst Didier Billion nennt diesen Aspekt gar eine „Obsession“ Türkiyes.1 Aber auch Syrien profitierte davon, dass der türkische Druck auf Rojava die syrischen Kurd:innen (unter anderen Faktoren) dazu anhielt, in einer potentiell wegweisenden Einigung der zumindest partiellen militärischen Re-Integration in die syrischen Streitkräfte zuzustimmen.2 Ankara begrüßt diese Entwicklung als Alternative zu wachsender politischer Eigenständigkeit Rojavasähnlich der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Türkiye bemüht sich, kurdische Unabhängigkeits-Bestrebungen grundsätzlich zu unterdrücken und potentielle Rückzugsräume der PKK auf dem Hoheitsgebiet anderer Staaten zu begrenzen.3 Darüber hinaus intendiert Ankara, durch eine nachhaltige politische und demographische Transformation des Gebietes eine sicherheitspolitische Pufferzone zu schaffen die auch dazu dient, die große Zahl syrisch-arabischer Geflüchteter in Türkiye durch Repatriierungen in die Zone zu reduzieren. Und letztlich positioniert sich Türkiye außerdem, durch eine enge Assoziation mit der Übergangsregierung türkische Firmen auch im Rest des Landes profitabel am Wiederaufbau zu beteiligen.4
Die ‚Sicherheitszone‘ seit 2024 – Stabilisierte Herrschaft und tiefe Eingriffe
Das politische Narrativ Türkiyes bedient sich unterdessen einer fadenscheinigen humanitären Ästhetik des Wiederaufbaus. Schon 2020 stellte eine Analyse des regierungsnahen deutschen Thinktanks SWP fest: „Ankara hat seine politischen Ambitionen konsistent unter einem humanitären Mantel verborgen. […] Türkiyes aktuelle Bemühungen intendieren nicht, Zivilisten dringende, temporäre humanitäre Hilfe zukommen zu lassen“.5 Stattdessen ist die generelle Strategie Ankaras, die Duldung der türkischen Präsenz zu nutzen, um die militärische und administrative Kontrolle über die Sicherheitszone zu vertiefen und diese, bis in die demographische Zusammensetzung hinein, tiefgreifend und langfristig zu einer loyalistischen Pufferzone umzubauen. Dieser ‚annektierenden Wiederaufbau‘ ist bereits weit fortgeschritten: Verwaltet wird die Sicherheitszone durch eine undurchschaubare Mischung türkisch-kontrollierter lokaler und türkischer Institutionen in wechselnden Konfigurationen.6 Zumindest in Teilen verkehrt in Nordsyrien mittlerweile die türkische Post PTT, Türk Telekom bietet eine wiederhergestellte Internetversorgung an. Mit türkischen Geldern werden weiter ganze Kleinstädte inklusive Infrastruktur errichtet, um die zu repatriierenden Syrer:innen aufzunehmen. Verbunden sind diese mit neuen, von türkischen Unternehmen asphaltierten Straßen. Ortschaften erhielten neue, ‚offizielle‘, türkische Namen und Straßenschilder wurden vielerorts ersetzt durch bilingual türkisch / arabische Varianten. Ein prominenter Platz in Efrîn heißt, einem solchen Schild zufolge, nun „Recep Tayyip Erdoğan Platz“.
Diese Entwicklungen weisen darauf hin, wie tiefgreifend der türkische ‚Wiederaufbau‘ nicht nur physische Lebensrealitäten und politische Strukturen in Nordsyrien verändert hat, sondern auch die demographische und kulturelle Zusammensetzung. Neben syrischen Geflüchteten aus Türkiye siedelt Ankara auch gezielt arabische und turkmenische Loyalisten dort an.7 Um dies zu ermöglichen, wurde die Region systematisch ihrer kurdischen Bevölkerung8 – und der damit einhergehenden traditionell starken kurdischen Einflüsse beraubt: „Für Ankara“, so die SWP, „scheint eine Sicherheitszone zur Wiederansiedlung Geflüchteter synonym zu sein mit der Schaffung eines ‚ethnischen Gürtels’“ einer arabischen demographischen Basis mit entsprechenden Loyalitäten und einer zunehmend ‚turkifizierten‘ Administration.
Im Rahmen dieses status quo der von Syrien geduldeten Annexion verfügt Türkiye außerdem auch über eine in zahlreichen Basen, Infrastruktur und befestigten Stellungen etablierte Militärpräsenz auf – offiziell – syrischem Boden. Im Januar und Februar 2025 signalisierten beide Regierungen mehrfach Bereitschaft, diese Tatsache offiziell zu kodifizieren und zu legitimieren – unter anderem in Form eines sogenannten „joint defense agreements“.9 Ein solches hat sich bisher nicht konkret materialisiert, würde allerdings neben der weiteren Normalisierung der Besetzung auch weitere profitable Optionen für Ankara mit sich bringen, so zum Beispiel durch Drohnen-Verkäufe oder Ausbildungsleistungen für syrische Militär- und Sicherheitskräfte im Rahmen von Sicherheitssektor-Reform-Projekten.
Ein Stück vom Kuchen – Wiederaufbau und Profite
Auch im zivilen Bereich zeichnet sich ab, wie untrennbar türkische Unternehmen in den Wiederaufbau Syriens eingebunden sind, vor allem in den Sektoren Bauwirtschaft und Energieversorgung – beides dringende Anliegen in Damaskus’ Plänen für die unmittelbare Zukunft. Nach Angaben Ankaras verzeichneten türkische Exporte nach Syrien von 2024 auf 2025 bereits einen Anstieg von über 35% auf ein Volumen von 219 Millionen USD.10 Zum Ende des Jahres erwarten Ökonomen einen Anstieg um 90% und bis 2028 ein Exportvolumen von 20 Milliarden USD.11 Erkauft ist dieser Anstieg, aus syrischer Perspektive, mit dem Aussetzen von Schutzzöllen auf mehr als 260 türkische Produkte, worunter syrische Produzent:innen mittel- bis langfristig leiden werden.12 Wie auch die Golfmonarchien und der Westen positioniert sich die türkische Privatwirtschaft also unter dem Schirm dessen, was ein türkischer Gouverneur der AP zufolge als „gerechte Brüderlichkeit“ im Sinne der „Menschlichkeit“ bezeichnet,13 ihren Anteil am Mammut-Projekt des wahrscheinlich hunderte Milliarden umfassenden Wiederaufbau Syriens zu sichern. Beispiele dafür tauchen Tag für Tag neue auf, was die Dynamik der wirtschaftlichen ‚Wiedereröffnung‘ Syriens unterstreicht. Unter den ersten war bereits im Januar die Vermietung eines Kraftwerksschiffs durch den türkischen Energiegiganten Karadeniz,14 später folgten ein Deal im Umfang von 7 Milliarden USD für den Bau von Kraftwerken durch Kalyon Enerji (geteilt mit Firmen aus Qatar und den USA)15 und ein Verkauf von zwei Milliarden Kubikmetern Naturgas durch den staatlichen Energiekonzern BOTAŞ.16 Der Präsident des Turkish Business Council, Kanat Kutluk, stellt dabei gegenüber The National ebenfalls exemplarisch die direkte narrative Verbindung zwischen humanitärer Hilfe und den zu erwartenden Profiten her: „Spezifische Möglichkeiten [für die türkische Wirtschaft in Syrien] beinhalten Zement- und Stahlexporte, angeführt von Firmen wie Limak Cement und iskenderun Demir Celik. […] Firmen wie Enka Insaat, Yapı Merkezi und Emlak Konu sind gut aufgestellt für umfangreiche Projekte, indem sie ihre Erfahrung aus dem Wiederaufbau nach Türkiyes 2023 Erdbeben zum Tragen bringen.“17
Diese Verknüpfung von humanitärem Narrativ und marktwirtschaftlicher Profitorientierung trifft zur Zeit in Damaskus eindeutig auf offene Ohren. Falls al-Sharaa Bedenken an im Ausland abgeschöpften Profiten des Wiederaufbaus oder den langfristigen Konsequenzen eines (erneuten) neoliberalen Ausverkaufs Syriens hegt, so scheinen diese zurzeit eindeutig unmittelbareren Zielen – wie dem Legitimieren seiner Herrschaft durch kurzfristig spürbaren Aufschwung – untergeordnet zu sein. Gleichzeitig schafft Türkiye durch die Besetzung nur schwer reversible Fakten. Selbst wenn, was sich momentan nicht abzeichnet, Damaskus in Zukunft seinen legitimen Anspruch auf Souveränität geltend machen sollte, sind die strukturellen Veränderungen in Nordsyrien nachhaltig und ihre langfristigen Konsequenzen kaum absehbar. Ein eskalierender Streit um Hoheitsrechte zwischen Damaskus und Ankara, historische Ansprüche der Kurd:innen, ungeklärte Loyalitäten der ‚neuen‘ turkmenischen und türkeinahen Bevölkerung der Zone, potentieller Revanchismus in der syrischen Bevölkerung, anti-türkischer Interventionismus von Seiten Israels – die Liste möglicher Bruchstellen ist lang und birgt fundamentale Gefahren für einen belastbaren Frieden in Syrien. Vor allem auch die aktuell gefährliche Schwäche des internationalen Rechtsrahmens (demonstriert zuletzt durch den israelischen Angriff auf den Iran) und entsprechender Mediations-Instanzen suggeriert dabei ein hohes Risiko, dass resultierende Konflikte einen gewaltsamen Verlauf nehmen. Dies schließt dann auch eine ‚Kettenreaktion‘ nicht aus, die Syrien in eine neue Spirale der Eskalation stürzen könnte.
Anmerkungen:
1 Didier Billion: Turquie – Syrie: brève anatomie d’une relation compliquée. iris-france.org,27.01.2025
2 David Gritten, Lina Sinjab: Kurdish-led SDF agrees to integrate with Syrian government forces. bbc.com, 11.03.2025
3 Das politische Kalkül um die regionale Rolle der Kurd:innen ändert sich zurzeit grundlegend, in der Folge der Ankündigung, die PKK löse sich auf, sowie der Verhandlungen über die nationale Wiedereingliederung Rojavas. Die hier beschriebene strategische Logik ist daher in naher Zukunft eventuell obsolet, da sich die Kurden-Politik Ankaras dementsprechende ändern dürfte.
4 Siehe dazu, z.B: Fareed Rahman: Turkish firms see massive boost as they eye contracts for Syria’s reconstruction, thenationalnews.com. 19.03.2025
Oder Muhammed Karabacak, Ömer Koparan: $7B energy deal in Syria to significantly boost electricity supply: Energy minister, aa.com.tr. 31.05.2025
5 Sinem Adar: Repatriation to Turkey’s „Safe Zone“ in Northeast Syria. swp-berlin.org, 13.01.2020
6 Ein Beispiel für die türkische Durchdringung der Administration: Der stellvertretende Gouverneur der türkischen Stadt Gaziantep war zeitweise als oberster Beamter von al-Bab bei Aleppo eingesetzt, wo er eine neue, lokale Regierungsstruktur in Form eines „Rates“ leitete, dem etwa 150 direkt von Türkiye bezahlte Beamte unterstanden. Quelle: Sarah El Deeb: Blurring the border, Turkey deepens roots in northern Syria. apnews.com, 19.06.2018
7 Sinem Adar: Repatriation to Turkey’s „Safe Zone“ in Northeast Syria. swp-berlin.org, 13.01.2020
8 Richard Hall: ‘When they come, they will kill you’: Ethnic cleansing is already a reality in Turkey’s Syrian safe zone. independent.co.uk, 29.11.2019
9 Suleiman al-Khalidi, Maya Gebeily, Khalil Ashawi: Exclusive: Syria’s Sharaa to discuss defense pact with Turkey’s Erdogan, sources say. reuters.com, 04.02.2025
10 Metkan Oruc, Mehmet Can Toptas: Türkiye-Syria trade sees significant growth at start of new year. aa.com.tr, 28.01.2025
11 Fareed Rahman: Turkish firms see massive boost as they eye contracts for Syria’s reconstruction. thenationalnews.com, 19.03.2025
12 Joseph Daher: Economy at a Crossroads: The Social Protection Challenge in Syria. timep.org, 01.07.2025
13 Sarah El Deeb: Blurring the border, Turkey deepens roots in northern Syria. apnews.com, 19.06.2018
14 Can Sezer: Turkey’s Karpowership says in the running to supply power to Syria. reuters.com, 30.12.2024
15 Fareed Rahman: Turkey’s Kalyon Enerji seeks global expansion of its renewable business after $7bn Syria deal. thenationalnews.com, 01.06.2025
16 Riham Alkousaa: Turkey to provide Syria with 2 billion cubic metres of gas annually. reuters.com, 22.05.2025
17 Fareed Rahman: Turkish firms see massive boost as they eye contracts for Syria’s reconstruction. thenationalnews.com, 19.03.2025